Aufwand für Behindertenhilfe steigt

Die Eingliederungshilfe für Behinderte belastet zunehmend die kommunalen Finanzen. "Bund und Länder entziehen sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung", so Bürgermeister Klaus Besser. "Die Einführung eines Bundesteilhabegeldes ähnlich dem Pflegegeld wäre eine Lösung".

Deutlich wird das Problem durch einen Artikel in "Die Kommunale", Jahrgang 9, Ausgabe 1, 2012, der nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben wird:

 

Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland schützen uns vor vier existentiellen Risiken: Krankheit (Krankenversicherung), Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung), Altersarmut (Rentenversicherung) und Pflegebedürftigkeit im Alter (Pflegeversicherung). Bekanntlich reichen die Wurzeln für die ersten drei Sozialversicherungen zurück bis zu Fürst von Bismarck im 19. Jahrhundert. Aber wie war das noch gleich zum jüngsten Zweig, bei der Pflegeversicherung? Zur Erinnerung: Von Jahr zu Jahr stieg die Zahl derjenigen, die pflegebedürftig wurden und deren Versorgung nicht mehr alleine von Angehörigen oder aus eigenen finanziellen Mitteln geleistet werden konnte. Die Ausgaben für die Hilfe zur Pflege stiegen rapide an: Noch im Jahr 1994 (dem Jahr des Amtsantritts von Bürgermeister Klaus Besser) wurden in Deutschland etwa 9 Mrd. Euro für die Hilfe zur Pflege ausgegeben, in NRW zahlten die Kommunen seinerzeit 2,4 Mrd. Euro jährlich. In einem gesellschaftlich breit angelegten politischen Diskussionsprozess, von unzähligen Kommissionen und Expertengutachten begleitet, wurde schließlich 1995 die Pflegeversicherung aus der Taufe gehoben.

Heute stehen wir in einem anderen Feld vor Herausforderungen, die ähnliche Dimensionen aufweisen: Die Rede ist von den finanziellen Hilfen für behinderte Menschen. Alleine die sogenannte Eingliederungshilfe, also Sozialhilfeleistungen für das Wohnen und Arbeiten von Menschen mit wesentlichen Behinderungen, kostet bundesweit derzeit gut 13 Mrd. Euro jährlich. In fast allen Bundesländern tragen die Kommunen diese Kosten ganz oder zumindest anteilig. Neben den Hilfen für Kinder und Jugendliche ist die Eingliederungshilfe damit die kommunale Sozialausgabe mit dem größten Kostenvolumen und mit Steigerungsraten von durchschnittlich über 5 % jährlich.

Durch die Euthanisiepolitik der Nationalsozialisten hat die Gruppe der Menschen mit wesentlichen Behinderungen einen relativ niedrigen Altersdurchschnitt. Zugleich führt der medizinische Fortschritt dazu, dass Frühgeborene oder Unfallopfer mit schwersten Behinderungen überleben können und dass auch Menschen mit wesentlichen Behinderungen mittlerweile eine annähernd normale Lebenserwartung haben. Immer mehr Menschen fallen aufgrund psychischer Behinderungen aus den Systemen der Kranken- und Arbeitslosenversicherung und landen schließlich in der Eingliederungshilfe, zum Beispiel in einer Werkstatt für Behinderte. Diese und weitere Faktoren haben dazu geführt, dass die Zahl der zu betreuenden Menschen zwischen 2000 und 2010 von 525.000 auf 725.000 gestiegen ist. Im gleichen Zeitraum stiegen die - zumeist kommunal finanzierten - Leistungen von 8,3 Mrd. Euro auf 12,5 Mrd. Euro jährlich.

In NRW zahlen die beiden kommunalen Landschaftsverbände jährlich mehr als 3,5 Mrd. Euro an Eingliederungshilfen für behinderte Menschen, mit jährlichen Kostensteigerungen von etwa 150 - 180 Mio. Euro. Diese nicht vermeidbaren Mehrkosten müssen über Umlagezahlungen von den Kreisen und kreisfreien Städten aufgebracht werden. Die Kreise finanzieren sich ihrerseits über Umlagen, die von den kreisangehörigen Städten und Gemeinden zu zahlen sind.

Diese Entwicklung wird nicht nur für mindestens die nächsten 10 Jahre so weitergehen, sondern der Umbau zu einer inklusiven Gesellschaft wird weitere kostenträchtige Maßnahmen und Strukturen nach sich ziehen. Verwiesen sei insoweit auf den jüngsten Antrag der SPD-Bundestagsfraktion 17/7942 (siehe im Internet unter http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/079/1707942.pdf) , der eine Vorstellung davon gibt, welche gewaltigen Schritte noch nötig sind, um behinderten Menschen eine selbstverständliche und breite Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Ähnlich wie Mitte der 90er Jahre zur Pflegeversicherung bedarf es angesichts der gewaltigen demografischen, finanziellen und sozialpolitischen Herausforderungen in der Behindertenpolitik eines bundesweiten, breit angelegten gesellschaftlichen Diskurses. In konzeptioneller Hinsicht wäre die Einführung eines vom Bund finanzierten Nachteilsausgleichs für Menschen mit Behinderungen, ein sogenanntes "Bundesteilhabegeld", von besonderer Bedeutung: Es würde behinderte Menschen aus der Sozialhilfe bringen und ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur Förderung der Inklusion. Zugleich wäre ein Anreiz für behinderte Menschen und ihre Familien gegeben, sich kostengünstige Versorgungsstrukturen zu suchen, wie dies bspw. mit dem Pflegegeld auch gelingt. Nicht zuletzt würden auch die in der Regel kommunalen Kostenträger bundesweit entlastet werden. Die Kommunen dürfen mit den wachsenden Kosten der Eingliederungshilfe und dem Umbau zu einer inklusiven Gesellschaft nicht allein gelassen werden.

 

Der vorstehende Artikel wurde von Mathias Löb, Kämmerer des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, verfasst. Die Kursiv gestellten Textstellen wurden ergänzt.

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